- Pisa-Schock?
Die aktuelle PISA-Studie hat eine mediale Empörungswelle ausgelöst.
„CDU-Bundesvize und Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien sieht angesichts der desaströsen Pisa-Ergebnisse „dringenden Handlungsbedarf“. Das Ergebnis habe sich eingereiht in die Ergebnisse der nationalen Studien der letzten Zeit, sagte Prien am Mittwoch im „Deutschlandfunk“. Daher sei es nicht überraschend. „Aber das macht es ja nicht besser. Es ist ein miserables Ergebnis und das muss nicht nur nüchtern analysiert werden, sondern muss auch Konsequenzen haben.“1 (Hervorhebung HJK)
Einmal mehr viel Geschrei um das immer wieder gleiche Thema – oder: wir hängen das Thema so hoch, dass niemand mehr drankommt – oder nach der Empörung sich damit jemand beschäftigen müsste?
Die Ausgangsfrage „Wie lautet die Steigerung von Bildungs-Katastrophe?“ führt zwangsläufig zu einer etwas geweiteten – über PISA-Studien und PISA-Schock (ist schon mal beruhigender als Katastrophe) hinausgehenden zeitlichen Horizont.
Zur Erinnerung: die Klage des Versagens schulischer Bildung begleitet schon seit Jahrzehnten die Geschichte der Bundesrepublik und ist ein Versagen an den sich je wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen.
"Georg Picht ... war ein deutscher Philosoph, Theologe und Pädagoge. Er prägte 1964 den Begriff der „Bildungskatastrophe“… , mit dem er die Situation des seinerzeitigen Bildungswesens in der Bundesrepublik charakterisierte und eine breite Debatte auslöste.“2
"Mit dem Schlagwort Bildungskatastrophe wurde in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren der Zustand des Bildungswesens im Vergleich mit anderen Industriestaaten beschrieben. ...
1964 brachte Georg Picht den Begriff mit einer in der Zeitschrift Christ und Welt publizierten Artikelserie in die Diskussion. Darin prognostizierte er Nachteile Deutschlands im internationalen Wettbewerb und eine Gefährdung der Demokratie durch einen „Bildungsnotstand“ (Hervorhebung HJK). In eine ähnliche Richtung ging das Buch von Ralf Dahrendorf Bildung ist Bürgerrecht von 1965, in dem er durch zu geringe Bildung die bundesdeutsche Demokratie gefährdet sah. Die Folge waren zahlreiche Reformbemühungen, aus denen etwa 1970 der Strukturplan für das deutsche Bildungs- und Erziehungswesen und die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsfragen entstanden. Aus dieser Debatte ging in den 1970er Jahren die Einführung von Gesamtschulen in Schulversuchen hervor.
Die Reformeuphorie geriet ab 1973 allerdings wieder ins Stocken, und auch die öffentlichen Bildungsausgaben liegen noch heute zum Teil deutlich unter dem Durchschnitt der OECD.
Auf den Titel Bezug nimmt Die Jungenkatastrophe von Frank Beuster, ein 2006 erschienener Erziehungsratgeber, der statt des katholischen Arbeitermädchens vom Lande wie bei Picht im Bildungssystem benachteiligte Jungen thematisierte.
Die Schulschließungen in Folge der Corona-Pandemie führen nach neuesten Erhebungen zu einem Rückgang der Lernleistungen, weshalb Klaus Zierer von einer "drohenden Bildungskatastrophe"[1][2] spricht. Neben einem Rückgang der Lernleistung sieht er auch negative Tendenzen in der sozialen, emotionalen, körperlichen und motivationalen Entwicklung der Lernenden, die vor allem bei Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus besonders zum Tragen kommen. Bildungspolitisch müsse folglich über entsprechende Maßnahmen nachgedacht werden, um weitere Bildungsungerechtigkeiten zu vermeiden. …"3
In der Geschichte waren übrigens die Gesamtschulen ideologisch umkämpftes Thema gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Und dann gab es zu ab 2012 nach entsprechender Vorlaufzeit die Einführung von G8, um die Schüler einer schnelleren Verwertung auf den Arbeitsmarkt zuzuführen. „Im Jahr 2014 brach Niedersachsen als erstes Land mit der G8-Reform, weitere westdeutsche Länder folgten und kehrten ebenfalls zum Regelabitur nach dreizehn Jahren zurück.“4 Die Arbeitgeber, die seinerzeit die kürzeren Schulzeiten gefordert hatten, beklagten nun die mangelnde Ausbildungs- und Studierfähigkeit am Ende der Schulzeit.
Deutsche Politik pflegt gerne die Behauptung: Bildung ist der einzige Rohstoff – in Sonntagsreden. Damit korreliert fast linear – Vorsicht Ironie – die Feststellung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (2023 – wobei augenscheinlich die Zahlen nur für 2019 im Vergleich zur Verfügung stehen):
„ Basierend auf dem Finanzierungsanteil von öffentlichen Bildungsausgaben bewegt sich Deutschland im Vergleich der ausgewählten europäischen Länder im unteren Drittel sowohl gemessen an der Einwohneranzahl als auch gemessen am BIP. Den aktuellsten Zahlen (2018 und 2019) zufolge bildet dabei Deutschland eine Gruppe mit Frankreich, Österreich und dem Vereinigten Königreich (gemessen sowohl an der Einwohnerzahl als auch am BIP). Dänemark, Norwegen und Schweden belegen in beiden Adjustierungen die ersten drei Plätze. Allerdings liegt pro Kopf gemessen Norwegen deutlich vor Dänemark und Schweden, gemessen am BIP sind Norwegen und Schweden vergleichbar, Dänemark etwas niedriger.“ 5
Probleme werden jetzt zu Hauf berichtet: „Die Erzählung von den abgehängten Migranten ist wahr. Durchschnittlich fallen sie im Vergleich zu Kindern ohne Migrationsgeschichte in jedem Fach zurück, teils um viele Schuljahre. Bildungsvergleich für Bildungsvergleich bestätigt das. Auch in dieser Woche wieder, beim neuen Pisa-Schock: Rund die Hälfte der Schüler mit Migrationsgeschichte kann in der neunten Klasse einem einfachen Text nur die wichtigsten Informationen entnehmen, in Mathe beherrschen sie kaum mehr als die Grundrechenarten. Bei denen, die wie Albert und Nour selbst im Ausland geboren wurden, also Migranten der ersten Generation, gehören sogar fast zwei Drittel zu dieser Gruppe. "Es ist offensichtlich", heißt es im Pisa-Bericht, "dass die Integration der Jugendlichen der ersten Generation in das deutsche Bildungssystem nicht gelingt.“6
Die Probleme beginnen aber nicht erst im „fortgeschrittenen Alter“ der jetzt getesteten Schülergruppe (15 Jahre). Jedem ist eigentlich in der Analogie eines Hausbaus klar, dass die Fundamente vernünftig erstellt werden müssen. Im Vorschul- und Grundschulbereich glaubte die Politik jahrelang nicht investieren zu müssen. Es wurden zwar eine verpflichtende Quote für die KITA-Versorgung gesetzlich festgeschrieben, wie diese allerdings mit ausreichendem Personal und entsprechenden finanziellen Mitteln unterfüttert würde, wurde nicht und ist bis dato nicht überall geregelt. Defizite über Defizite. So berichtete eine Grundschulleiterin im Kontext der aktuellen Pisa-Berichterstattung, dass erhebliche Anteile der Erstklässler noch nicht in der Lage seien, einen Stift richtig in der Hand zu halten. Dies fordere den Einstieg in die Schule zusätzlich und begrenze die Möglichkeiten, sich zeitnah mit Schreiben, Lesen und Mathematik zu befassen.
Hinzu kommt die inhaltliche und bauliche Misere an vielen Schulen sowie die mangelnde technische Ausstattung, die bei weitem kein angemessenes Lernumfeld zulassen.
„Deutschland, so scheint es, hat zu spät begriffen, dass es ein Einwanderungsland geworden ist. Und zwar eins, in dem in sehr kurzer Zeit, sehr viele Kinder mit höchst diversem Migrationshintergrund angekommen sind und weiter ankommen. Deutsche Schulen war darauf weder personell noch inhaltlich vorbereitet.7 Das dreigliedrige System galt als vorbildlich. Dass es auf Seiteneinsteiger und Kinder mit Sprachschwierigkeiten nicht ohne weiteres reagieren konnte, blieb das Problem der Lehrkräfte vor Ort. Inzwischen trifft die höhere Belastung auf eine marode Struktur, in der es an Lehrkräften fehlt, der Umgang mit Digitalisierung ratlos erscheint, veraltete Lehrpläne es den Lehrkräften erschweren, flexibel auf die neuen Anforderungen zu reagieren. 8
Zur Erinnerung sei noch einmal an das „Deutsche Bildungsmärchen“ erinnert, in dem immer wieder die Erzählung breitgetreten wird, Bildung sei der einzige Rohstoff, in eben diesem Land, einer führenden Wirtschaftsnation, Ein Armutszeugnis angesichts der bereitgestellten Mittel für diesen so wichtigen Zukunftsfaktor für die Menschen selbst und die Gesellschaft - und eine riesengroße Scheinheiligkeit, wenn jetzt wieder ein Aufschrei durch das Land geht hinsichtlich der erschütternden Ergebnisse der PISA-Studie.
Übrigens, der Kabarettist Georg Schramm stellte mal in einem Programm sinngemäß fest:
Im Bundestag gibt es doch eine Menge Akademiker und Lehrer: Wieso verleugnen die eigentlich im politischen Alltag und Handeln ihren Bildungsweg, Herkunft und Profession, in dem sie das Bildungssystem so verrotten lassen?
Und, wann gibt es die nächste PISA-Studie und damit den nächsten Aufschrei, jetzt müssten doch Konsequenzen erfolgen? Vermutlich steht dem Handeln jetzt das Haushaltsurteil des Verfassungsgerichts in Sachen Schuldenbremse entgegen. Also wieder: Keine Veränderung in Sicht.
2 Quelle: Wikipedia - Stichwort Georg Picht
3 Quelle Wikipedia - Stichwort Bildungskatastrophe
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Abitur_nach_der_zw%C3%B6lften_Jahrgangsstufe
6 https://www.zeit.de/2023/52/ungleiche-bildungschancen-migrationshintergrund-schule-integration
7 Online leider nur hinter Bezahlschranke zu lesen – aber der Titel ist schon eindeutig: https://www.zeit.de/2023/53/integration-schulen-aladin-el-mafaalani-pisa-studie