Leben verboten

Wie arme Kinder in Deutschland sozial „abgetrieben“ werden

 
Titelseite: Bündnisbrief November 2016Ene, mene, muh, und raus bist Du...
… jedenfalls, wenn du, liebes Kind, schon als Embryo prekär belastet bist. Der Dichter Dostojewskij hat vor langer Zeit einen Roman über „Erniedrigte und Beleidigte“ geschrieben, der heute zu den Klassikern der Weltliteratur gehört. Er ahnte sicherlich nicht, dass es heute, 150 Jahre später, aktueller denn je sein könnte, also mit dir ganz viel zu tun hat. Denn kaum hast du den ersten Lichtstrahl der Welt erblickt, erfährst du – und viele deinesgleichen – dein erniedrigtes Dasein. Das ist dir, wenn du noch in die Windeln kackst, nicht bewusst, aber als Freunde mit besonders hässlichen Fratzen begrüßen dich Armut, Elend und lebenslange Chancenlosigkeit, sie fressen sich, wie Krebsgeschwüren, vom ersten Lebenstag an in deinen Körper und in deine Seele. Deine Gesundheit ist vom ersten Atemzug
an gefährdet, deine Lebenserwartung viel geringer als die deiner Altersgenossen in den wohlhabenden Stadtteilen, mit Bildung musst dudein armseliges Dasein erst
gar nicht belasten, Schnuppern darfst du vielleicht, aber dass du am kulturellen Reichtum der Gesellschaft teilhast, ist nicht vorgesehen.
Ich höre die mahnenden Worte: Das ist doch alles maßlos übertrieben, schwarzgemalt, realitätsfern, schreckt LeserInnen ab! Tatsächlich? Ich frage einfach: Kann man einen Menschen mehr erniedrigen und beleidigen, als ihm fast alles, was das Leben lebenswert macht, vorzuenthalten? Als von einer für Arbeit und Sozialeszuständigen Ministerin, ohne dass ihr die Schamesröte ins Gesicht steigt, zu hören, der Hartz-IV-Satz reiche „für das Nötigste“, etwa 1,15 Euro pro Monat für Kultur? Diesen Hochmut nährt eine Verachtung für die Armen und Elenden, die schon der russische Dichter seinerzeit im Dünkel der Feudalherren anklagte. Wenig wirklicher Wandel seither – Freiheit für Fron war schon immer eine Mogelpackung für die Verarmten. Wir wollen kein einziges Wort sprechen oder schreiben, das diese Zustände auch nur tendenziell beschönigt. Wer meint, es gebe Menschen unter uns, denen mehr als das, was zum bloßen, kargen Überleben notwendig ist, nicht zustehe, vertreibt sie aus der Gesellschaft. Nicht vor allem die politische Arroganz empört, sondern der entwürdigende Umgang mit zahllosen Menschen in einem Staat, dessen Grundgesetz in seinen ersten Worten genau diese Würde einfordert, auch und eigentlich zuallererst für Kinder. Wer sie durch politische Entscheidungen und verbale Fußtritte ausgrenzt, spricht ihnen in der Konsequenz ihr Lebensrecht in einer Gesellschaft ab, die sie immer mehr und immer konsequenter ins Abseits drängt. Ein Leben, das, gemessen an den vorhandenen gesellschaftlichen Möglichkeiten, kein Leben ist, wird zum politisch bewusst und gezielt abgetriebenen Leben: Arbeit, Gesundheit, Wohnen, Kultur, die vier Eckpfeiler eines würdevollen Lebens, hat die Agenda 2010 erstmals in der deutschen Geschichte vielen Millionen Menschen explizit, radikal und ganz offen gestohlen. Die Folgen sind nicht nur ür diese Menschen, sondern für jeden, der irgendwo in sich noch ein Empfinden für Gerechtigkeit entdeckt, unerträglich. In „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ hat Charles Dickens uns eine Allegorie geschenkt, die einen tiefen, einen bewegenden Blick in das existenzielle Desaster armer Kinder ermöglicht auch heute noch – wenn wir sehen wollen.
Altersarmut, Kinderarmut – das Bündnis für Menschenwürde und Arbeit möchte für die existenzielle Zumutung sensibilisieren, die das Ausmaß der materiellen, kulturellen, sozialen und seelischen Verelendung für viele Menschen bedeutet. Sie durchzieht ihr Leben, auch in Mönchengladbach und Umgebung, vom scheinbar noch so wohligen Dasein im mütterlichen Bauch bis hinein in die Grabeskälte. Wenn wir sehen, dass es viele einsichtige Köpfe und helfende Hände gibt, aber keine politische Bereitschaft, diese Menschen am gesellschaftlichen Reichtum zu beteiligen, der im Überfluss vorhanden ist, können wir nicht schweigen und zusehen. Wir können nicht verhehlen, dass der Zorn über Zustände in uns rumort, in denen gerade wieder ein Gesetz, das Erbschaftsrecht, verabschiedet wurde, das die Reichen noch reicher macht, und in denen der Kölner Bischof Woelki die Wiedereinführung der Vermögenssteuer für Reiche zugunsten des großen Teils der Bevölkerung fordert, der immer ärmer wird als einsamer Rufer in einer politischen Wüste. Beispiel Mönchengladbach: Hier leben so viele arme Kinder wie in kaum einer anderen deutschen Großstadt. Mit ihren Augen auf die politischen Entscheidungsträger in der Kommune geblickt, drängen sich Fragen auf: Kommen sie in den Visionen für Stadtentwicklung, in den kommunalen Planungen überhaupt vor?
Roermonder Höfe, City Ost, Bunter Garten, Haus Westland, Steinmetzstraße: Es geht immer und immer wieder nur um die Menschen, die ohnehin zum wohlhabenen Teil der Bevölkerung gehören. Um luxuriöse Wohnungen für die ohnehin im Luxus Lebenden. Warum, fragen die, die schicksalhaft prekär gelähmt sind, haben die StadtplanerInnen nicht die Chance genutzt, Mönchengladbach als soziale Vorzeigestadt zu positionieren? Schöne Wohnungen für die sozial Schwachen zu erschwinglichen Preisen, für eine Kindheit, die sich gut anfühlt, zentral gelegen, und ein paar Luxuswohnungen dürften dazwischen auch sein. Ein sozialer Paukenschlag wäre das gewesen: Da gibt es eine Stadt, die will für jeden Einwohner lebenswert sein, und sie schafft besonders günstige und  würdige Lebensbedingungen für diejenigen, denen astronomische Mieten oder gar Wohneigentum so weit entfernt sind wie das nächste Sonnensystem.
Hätte, könnte, wäre – die Geldsäcke, die immer noch mehr Rendite machen wollen, und ihre politischen Helfershelfer behandeln stattdessen die Armen und Elenden, als lebten sie längst auf diesen fernen Sternen. Und, eine der beschämendsten und entlarvendsten politischen Gesten in dieser Stadt, vertreiben ein Arbeitslosenzentrum, das für viele Eltern vieler Kinder in Armut zu einem Ort der Hoffnung und der Hilfe geworden ist, aus dem Viertel, in dem das wohlhabende Publikum sich vor ihnen ekeln könnte. Kinder, Kinder, wacht auf!
|Dr. Günter Rexilius

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