Träumt unsern Traum!

bbokt2009Sonntag, der 13. September, 18.15 Uhr. In der Citykirche ist es ruhig. Noch. Friedhelm Kirchhofer klebt an der Heinsberger Mauer die letzten Klagen an. „Weg mit Hartz IV!“ liest man da, und: „Aufhörprämie statt Abwrackprämie für den Klimakiller Nr. 1!“.
 
Die Heinsberger Mauer steht links zwischen der zweiten und dritten Säule, davor vier Wand elemente aus Krefeld, vollgespickt mit Klagen, die, in ordentlichen Kolonnen aufgereiht, wie eine Anzeigetafel des Elends wirken. Gegenüber die Gladbacher Mauer, liebevoll von Schülerhand gestaltet die vier Elemente der Gesamtschule Espenstraße, daneben die drei Teile der Hochschule Niederrhein mit kräftig akzentuierten Forderungen für bessere Studienbedingungen und gegen Studiengebühren, schließlich die zwei Wände aus dem TAK, erkennbar an den buntfarbenen „Traum Männchen“, auf denen die TAK Leute ihre ganz konkreten Visionen von einem „Land, in dem Milch und Honig fließt“, dargestellt haben. Inzwischen haben die Dürener Kollegen die Mauerzeile gegenüber mit ihren Beiträgen komplettiert. Jetzt ist nur noch die Stirnseite, vor dem Altar, offen und wartet auf das Kernstück, die „Philipsmauer“ aus Aachen. Eine halbe Stunde vor Beginn der Abschlussfeier, als sich schon Nervosität breit macht, erscheint die Aachener Mannschaft, und dann geht alles ganz fix: Eine Schubkarre transportiert die Steine quer durch das Mittel schiff zum Standort, wo unter den kundigen Händen von Heinz Backes eine „echte“ Mauer heranwächst, schön im Verbund gebaut und gesichert gegen Steinschlag und andere Überraschungen. Als der Gottesdienst pünktlich um sieben beginnt, steht die Mauer und präsentiert auf großen grünlichen Kartons die Klagen der ehemaligen Philipsarbeiter und ihrer Aachener Sympathisanten gut lesbar für das Publikum, das sich in einem großen Oval ent lang dem raumumgreifenden Hufeisen derGesamtmauer niedergelassen hat.
 
Nach den Begrüßungsworten von Johannes Eschweiler und den ersten Versuchen von Theo Pannen, die Besucher auch musikalisch auf den Anlass des Gottesdienstes einzustimmen, berichten Nachrichten aus Gesellschaft und Arbeitswelt Vertreter der verschiedenen Mauer teams von ihren Erfahrungen und der konkreten Arbeit vor Ort, in Schulen, Arbeitslosen und
Obdachlosenzentren, Flüchtlingstreffs, Kirchen und Ämtern und von den vielfältigen Begleitaktionen in öffentlichen Räumen, auf Straßen und Plätzen. In ihren Erzählungen wird noch einmal lebendig, wie sich Kinder dem Thema genähert und ihre Träume in Bilder gekleidet haben, Visionen von einer anderen, besseren Welt, in der die Menschen respektvoll miteinander und achtsam mit der Natur umgehen und die Eltern Zeit für sie und ihre kleinen Bedürfnisse aufbringen. Und wie die „Mühseligen und Beladenen“ un
serer Region für einen Moment den Eispanzer aufgesprengt haben, den die soziale Kälte um ihre Gefühlswelt gelegt hat, und wie sie ihrer Wut und Enttäuschung oder ihren Hoffnungen in teils scharfzün gigen, teils ungelenken Sätzen Aus druck gegeben haben. Besonders bewegend der Beitrag zweier Mitstreiterinnen aus Heinsberg, die im Wechselgespräch anschaulich schildern, wie die anfängliche Skepsis der von Ausgrenzung betroffenen Menschen ih res Kreises allmählich dem Gefühl wich, dass da jemand war, der sich ihren Sorgen und Nöten gegenüber nicht taub stellte, und wie aus diesem Gefühl erlebter Solidarität neuer Mut und die Hoffnung wuchsen, dass die gemeinsamen Klagen und Visionen doch noch Kraft zur Veränderung entfalten könnten.

Genau das ist der Sinn der „frohen Botschaft“, die Jesus dem Schriftwort des Gottesdienstes (Lk. 4) zufolge „den Armen bringt, um den Gefangenen die Freiheit, den Blinden neues Sehvermögen, den Unterdrückten Befreiung von jeglicher Gewalt und allen Menschen ein Gnadenjahr des Lebendigen anzusagen“. Was dieses „Gottes wort am Menschenort“ angesichts der vielfältigen Klagen und Visionen ringsum konkret bedeutet, macht Edmund Erlemann in seiner Ansprache deutlich, die die Herzen der Anwesenden trifft.
Diese Worte fallen nicht nur tief in die Herzen der Gottesdienstbesucher, sie sind auch aus den Herzen der vielen Menschen gesprochen, deren Visionen an der großen Mauer machtvolle Wirkung entfalten könnten, wenn sie sich zu einem gemeinsamen Traum vereinigten und in solidarisches Handeln mündeten. Auch das ist so ein Traum. Dom Helder Camara hat ihn auf eine einprägsame Formel gebracht, die in der Liedversion, sogar als Ka  non, sogar von lauter eigenwilligen Köpfen gesungen, die sonst nicht gerade in Eintracht schwelgen, harmonisch klingen kann, wenn Theo Pannen den Takt vorgibt: „Träumt unsern Traum!“

Aus ihren Herzen haben die vielen „Ankläger“ keine Mördergrube gemacht. Sie sprechen eine klare und eindeutige Sprache. Deshalb dürfen sie unüberhörbar zum Klingen gebracht werden, wie es bei den Fürbitten geschieht, die vier der Klagen, stellvertretend für alle, sozusagen vor die höchste Instanz tragen, vor der sich die Mächtigen und Gierigen unserer Tage für all ihre marktradikalen und neokriminellen Machenschaften zu verantworten haben. Wer genau hinhört, kann das Rauschen von Flügeln vernehmen: Der Erzengel Gabriel macht seinen Job. Aber jedem der Gottesdienstbesucher ist klar, als er nach Friedensgruß und Schlusssegen auf einen Weg geschickt wird, der Engagement und langen Atem braucht: Es bedarf vieler Hände, die dem Engel kräftig unter die Flügel greifen müssen, um seinen Auftrag zu einem guten Ende zu bringen. Das ist das gemeinsame Kredo der Teilnehmer, die sich nach dem Gottesdienst in lockerer Begegnung am Getränkestand noch einmal vergegenwärtigen, was die Klagemauer für sie und viele andere aus der Region bedeutete und welche nächsten Schritte anstehen. Und während die Aktivisten aus Aachen, Düren und Heinsberg bereits ihre Mauerteile abbauen und Friedhelm Kirchhofer die Klagezettel von den Gladbacher Wänden klaubt und, nach Standorten getrennt, in Archivordner verpackt, spricht Wolfgang Fels für das Bündnis für Menschenwürde und Arbeit das, was alle denken, in das bereitgehaltene Mikrofon von Radio 90,1: „Die Sache ist noch nicht zu Ende ... !“
|Alex Micha

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