Am prekären Abgrund
Soziale Gerechtigkeit ist zu einer verlogenen Worthülse geworden. In Deutschland leben 2,8 Millionen Kinder, die, kaum geboren, ein Leben voller Entbehrungen, Demütigungen, Ausgrenzungen vor sich haben, 2,6 Millionen Klein-RentnerInnen, die nach einem Leben, das ohnehin durch geringe Entfaltungs- und Teilhabemöglichkeiten geprägt war, von Sorgen um ihr Überleben, durch gesundheitliche Vernachlässigung und häufig durch soziale Isolation bedroht sind,
6,4 Millionen EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld II (Hartz IV), darunter viele alleinerziehende Mütter, MinijobberInnen und Langzeitarbeitslose, die unter schlechter Ernährung leiden, häufig chronisch erkranken und etwa sieben Jahre früher sterben als Menschen, diemateriell sorgenfrei leben können.
Die Zahlen sind bekannt, aber abstrakt, schaffen eher rationale Distanz als Empathie mit den betroffenen Menschen. Etwas lebensnaher werden sie, wenn wir uns vorstellen, sie alle würden sich zu einer der Menschenketten zusammenfinden, die bei Protesten gegen AKWs oder andere politisch und ökonomische Zumutungen so beliebt sind. Wenn jeder dieser von Armut und Elend bedrohten Menschen einen Meter Platz einnähme – viel mehr gesteht ihnen die gesellschaftliche Raumverteilung ohnehin nicht zu –, wäre sie etwa 11800 Kilometer lang. Die Armut in Deutschland würde also am Äquator, Mensch für Mensch, etwa ein Viertel des Erdumfangs besetzen, etwa von Libreville, der Hauptstadt von Gabun, nach Osten bis Kuala Lumpur, der Hauptstadt von Malaysia. Innerhalb der deutschen Grenzen entstünde eine Schlange, die sich von Sylt bis ins Allgäu 13-mal windet, und wer von Ost nach West oder umgekehrt quer durch das Land reisen würde, stieße alle 50 km auf sie, auf eine obszöne gesellschaftliche Realität: Unübersehbar über den Horizont nach links und rechts hinausreichend, wahrscheinlich auch unüberhörbar. Übrigens: Würden wir alle NiedriglöhnerInnen und Werksvertragsbetrogenen hinzuaddieren, wären die Zahlen der armutsbedrohten Menschen etwa doppelt so hoch.
Soziale Marktwirtschaft, Sozialstaat – Schlagworte für Festreden und Wahlkämpfe. Ihr Versprechen haben sie seit Gründung der Bundesrepublik für viele Millionen ihrer Bürger allenfalls marginal eingelöst, die Agenda 2010 kassierte es mit Hartz-IV, Niedriglohnsektor und gesetzlich zementierten Armutsrisiken endgültig. In den letzten zwei von Covid überschatteten Jahren hat sich die Ignoranz gegenüber jenen, die schon immer an den gesellschaftlichen Rand gedrängt worden waren, noch einmal verstärkt: Die Mietpreise sind für sie unbezahlbar geworden, die Zahl wohnungsloser Menschen ist weiter gestiegen, familiäre Aggressivität unter beengten Wohnverhältnissen hat zugenommen, ihre dramatischen Lerndefizite wegen fehlender Lernmaterialien werden Hunderttausende armer Kinder nie mehr aufholen, über existenzielle Ängste von RentnerInnen und arbeitslos Gewordenen könnten PsychotherapeutInnen und ÄrztInnen dicke Bücher schreiben. All diese prekären Schrecken finden in der gediegenen Öffentlichkeit nicht statt, für sie besteht kein politisches Interesse. „Hungern oder frieren“ überschrieb „Der Freitag“ einen einschlägigen Bericht.
Gibt es Hoffnung auf Veränderung? Nein, antwortet der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung: Erhöhter Mindestlohn, die eine oder andere Erleichterung für BezieherInnen von Arbeitslosengeld II und kleine Verbesserungen für Kinder und RentnerInnen münden in kosmetische Korrekturen. Die festgeschriebenen Steuer-, Einkommens- und Vermögensprivilegien für den gut situierten Teil der Gesellschaft aber werden, von der FDP triumphal gefeiert, soziale Ungleichheit systematisch weiter verschärfen. Und SPD und Grüne? Sie haben diese sozialpolitische Bankrotterklärung, unter Aufgabe ihrer Wahlversprechen für mehr soziale Gerechtigkeit, die sie nun zu dem sinn- und folgenlosen Adjektiv „sozialverträglich“ geschrumpft haben, durchgewunken.
Wer ehrlich und solidarisch in denprekären Abgrund dieser Gesellschaft blickt, erkennt voller Ernüchterung, aber auch Zorn, dass jede Hoffnung, Armut und Elend in Deutschland könnten irgendwie irgendwann in den Fokus der Verantwortlichen des politisch-ökonomischen Kartells geraten, vergeblich ist. Die an seinem Rand stehen oder schon in seine Aussichtslosigkeit gestürzt sind, müssen sich durch die gesellschaftlichen Narrative über den notwendigen Beitrag zur pandemischen Bewältigung, der auch von ihnen zu fordern sei, zusätzlich verhöhnt fühlen: Solidarität aller sei nötig, so lautet das beliebteste von Politik und Medien kolportierte Schlagwort, um dem Virus die rote Karte zu zeigen. Wer, so fragt die alleinerziehende Mutter, ist denn jemals in meinem Leben mit mir und meinen Kindern solidarisch gewesen? Und weshalb bedeutet Solidarität, will der Langzeitarbeitslose wissen, dass vor allem wir, die ohnehin am bzw. unter dem Katzentisch der Gesellschaft sitzen müssen, von den Folgen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie am stärksten bedrängt und belastet werden? Ich kotze, sagt der perspektivlose Jugendliche, wenn Solidarität darin bestehen soll, dass die reichsten Menschen während der Pandemie ihre Vermögen verdoppelt haben, während meine Lage noch hoffnungsloser geworden ist! Auch Solidarität, so lautet ihre unmissverständliche Botschaft, muss man sich leisten können. Und wer seine Empörung über lebenslang erlebte und aktuell verschärfte Ungerechtigkeit auf die Straße trägt und sich anhören muss, Verschwörungstheoretiker oder unverantwortlicher Egoist zu sein, wird für ein demokratisches gesellschaftliches Projekt vielleicht verloren sein.
Wir vom „Bündnis für Menschenwürde und Arbeit“ werden unsere Aufgabe weiterhin darin sehen, Menschen, denen ihr vom Grundgesetz zugesicherter – „die Würde des Menschen…“ – Platz in der Gesellschaft vorenthalten wird, aufzuklären und zu agitieren. Wir werden sie weiterhin ermuntern, ihre Interessen lautstark und penetrant geltend zu machen, Gegenwehr zu üben und ihre Rechte auf ein würdevolles Leben einzufordern. Der Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräsidenten hatte zwar keine Chance, es zu werden, aber, täglich mit der Not obdachloser Menschen konfrontiert, weiß er, wie auch wir wissen, um das Grundübel dieser Gesellschaft: „Ungleichheit ist die Mutter aller Probleme“ – ein kleiner Schritt des Aufbegehrens gegen sie soll auch dieser neue Bündnisbrief sein.
|Dr. Günter Rexilius
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