Kriegszeiten: Angriffe auf die Menschenwürde
Wenige Jahre nach Beendigung des 2. Weltkriegs konnten die Menschen in Deutschland zunächst einmal Hoffnung schöpfen: Im Jahre 1949 trat das Grundgesetz in Kraft, in dem die menschliche Würde an herausragender Stelle im § 1 Verfassungsrang erhielt. Ihr Schutz wurde verbindliche Handlungsgrundlage vor allem für politische VerantwortungsträgerInnen, die durch weitere
Paragrafen verpflichtet wurden, ein friedliches, gerechtes, menschenrechtsfundiertes Gemeinwesen und eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen sicherzustellen.
Erste Zweifel stellten sich in den siebziger Jahren ein, als das Etikett „Soziale Marktwirtschaft“ zu verbleichen begann. Systematischer Sozialabbau ließ die Skepsis im Laufe der Jahrzehnte wachsen, bis die „Agenda 2010“ zum gesetzlich fixierten und legitimierten Affront der politisch und ökonomisch Herrschenden gegen Millionen prekär lebende Menschen wurde. Im Verlaufe der letzten zwei Jahre nun wurde ihnen regelrecht der Krieg erklärt, und diese Lesart des aktuellen sozialpolitischen Desasters ist nicht als Metapher, sondern als Feststellung zu verstehen. Die soziale Dynamik unserer Gesellschaft, die das alltägliche Leben vieler Menschen immer stärker bedroht,entgleitet den Begriffen kritischer Sozialwissenschaft, ist nur noch mit einem Vokabular der Konfrontation zu erfassen. Faktisch erleben wir einen Frontalangriff der Regierenden und ihrer parteiinternen Fußtruppen – aggressiv unterstützt durch die Opposition – auf dieArmen und Elenden: Sie werden drangsaliert und ausgegrenzt im Rahmen eines gesellschaftlichen Szenarios, dem dieMütter und Väter des Grundgesetzes eigentlich einen endgültigen Riegel vorschieben wollten, als sie Friedens- und Sozialgebot ins Grundgesetz schrieben.
Der sozialpolitische Geschosshagel, der im Krieg nach innen auf die durch ihn Leidenden niedergeht, auf seine seelisch verwundeten oder die körperlich unheilbar beschädigten oder die längst zu Tode gekommenen Opfer, ist hinlänglich bekannt: Mindestlohn, der nicht zum Leben reicht, aber zum Sterben zu viel ist; Kinderarmut, von der jedes fünfte Kind betroffen ist, also fast 3 Millionen Kinder; Kindergrundsicherung, über die Regierung und Parlament weiterstreiten, um sie den materiell und kulturell ausgegrenzten Kindern irgendwann wie Almosen von der Haushalts-
Resterampe als großzügigen Geste zu verkaufen; Altersarmut, die bis ins Jahr 2022 rasant zugenommen hat, so dass etwa 16 % der Menschen über 65 Jahre armutsgefährdet sind; Wohnungsnot, vor allem fehlende Wohnungen für Menschen mit geringem oder keinem Einkommen, die ein Ausmaß erreicht hat, das Millionen Familien und Alleinstehende in akute existenzielle Nöte bringt;
Kinder während der Corona-Pandemie, speziell in Deutschland weiter verschärft hat, wie wir dank der PISA-Studien wissen; Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, insbesondere der prekär belasteten Gruppen, die durch die beabsichtigte Krankenhausreform und durch beschleunigte Privatisierung, etwa in Gestalt profitorientierter medizinischer Versorgungszentren, weiter eingeschränkt wird; Kürzungen bei Maßnahmen, die helfen sollen, Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, berauben sie ihrer ohnehin geringenChancen, wieder ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Und diese Liste der sozialen Explosivität ist nicht vollständig. Die Abwärtsspirale der Ausgaben für soziale Leistungen, auf die viele Menschen angewiesen sind, um überleben zu können, die Verschiebung des von der Regierung versprochenen Klimageldes, das für prekär lebende Menschen existenziell wichtig wäre, und die steigenden Lebenshaltungskosten, die sie in Angst und Verzweiflung treiben, erleben viele Bedürftige als Akte der Gewalt gegen sich. Viele Opfer dieser asozialen Dynamik können nur noch dank des Einsatzes
vieler ehrenamtlich tätiger Menschen bei Tafeln und Suppenküchen überleben, Asyl- und Schutzsuchende hören von der Innenministerin und dem Bundeskanzler, dass sie so schnell wie möglich und mit Gewalt aus diesem Land entfernt werden sollen, weil sie zu teuer sind, Asyl- und Menschenrecht hin oder her: Für leidende und hoffnungslose Menschen sind die sie strangulierenden Entscheidungen der politisch Verantwortlichen keine bedauerlichen Missstände oder gesellschaftliche Widersprüche, sondern folgenschwere Attacken.
Die Angriffe auf die wehrlosesten Teile der Gesellschaft spiegeln sich in Zahlen und Berichten des Statistischen Bundesamtes oder der Bertelsmann-Stiftung oder der Wohlfahrtsverbände wider: In keinem anderen Land – mit Ausnahme der USA – ist die Kluft zwischen armen und reichen Menschen größer und beschleunigt sich mehr als in Deutschland: Rund 16 % der Menschen – also etwa 14 Millionen – leben unterhalb der Armutsgrenze, und die Wohlhabenden vervielfachen
ihre Vermögen unbegrenzt, »In keinem anderen Land – mit Ausnahme der USA – ist die Kluft zwischen armen und reichen Menschen größer und beschleunigt sich mehr als in Deutschland: Rund 16% der Menschen – also etwa 14 Millionen – leben unterhalb der Armutsgrenze, und die Wohlhabenden vervielfachen ihre Vermögen unbegrenzt,